von Anne Stern
Erschienen am 13. Oktober 2020 im Rowohlt-Verlag
ISBN: 978-3-499-00429-2
https://www.rowohlt.de/paperback/anne-stern-fraeulein-gold-scheunenkinder.html
Hinweise:
– Lest diese Rezension bitte nicht, wenn ihr Teil 1 „Fräulein Gold – Schatten und Licht“ noch nicht kennt
– Meine Rezension zum ersten Teil findet ihr hier.
– Alle Zitate beziehen sich auf die Seitenzahl der gedruckten Ausgabe.
– Das Buch habe ich freundlicherweise vom Rowohlt-Verlag als Rezensionsexemplar bekommen – es hat meine Meinung aber nicht beeinflusst.
Das Buch „Fräulein Gold – Scheunenkinder“ von Anne Stern ist der zweite Teil einer Trilogie um die Hebamme Hulda Gold, die im Berlin der 1920er Jahre auf der Spur eines unvorstellbaren Verbrechens an Kindern ist.
Im Oktober 1923 ist für Hulda Gold noch fast alles beim Alten: Noch immer wohnt sie am Winterfeldtplatz, der Kioskverkäufer Bert bildet ihren Fels in der Brandung, ihr Ex-Freund Felix bereitet ihr nach wie vor Kummer und Kommissar Karl North, Huldas neue Beziehung, ist für sie nicht der sicherer Hafen.
Da wird Hulda zu einer Geburt ins Scheunenviertel nach Mitte gerufen. Dort entbindet sie Tamar, die mit ihrem jüdischen Ehemann und ihren Schwiegereltern im Elend wohnt, von einem gesunden Sohn. Doch wenige Tage später verschwindet das Neugeborene und Hulda beginnt ihre Nachforschungen und ist einem furchtbaren Verbrechen auf der Spur.
Karl North, Huldas Freund, steht vor einem großen Fall: Er bekommt es mit Kinderhändlern zu tun und Hulda ahnt, dass es einen Zusammenhang mit dem Verschwinden des Neugeborenen geben könnte.
Kurze Zeit später ist die Inflation auf dem Höhepunkt. Angefacht von rechten Gedankengut wird das Scheunenviertel gestürmt, der Judenhass entlädt sich in einem Pogrom und Hulda selbst gerät als Halbjüdin in große Gefahr.
Im Mai 2020 habe ich den ersten Teil der Reihe um Hulda Gold gelesen und war von diesem starken Charakter sehr angetan. Außerdem empfinde ich die Mischung aus Historie und Krimi sehr interessant. Damit war klar, dass ich den zweiten Teil auch direkt lesen wollte.
An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Autorin Anne Stern, die mit ein Rezensionsexemplar beim Rowohlt-Verlag vermittelte und auch an den Rowohlt-Verlag für die Zusendung des Buches.
Hulda Gold ist für mich ein äußerst faszinierender Charakter – sie gehört zu den interessantesten fiktiven Charakteren, die ich in meiner Leselaufbahn kennenlernen durfte. Nach außen hin wirkt sie taff und selbstsicher, ist ihrem Beruf eine Konifere und damit die Rettung vieler Frauen und Neugeborenen. In ihrem Inneren sieht es aber anders aus: Sie hadert mit ihrem Leben, mit ihrem Beruf, mit ihrer Liebe und auch mit ihrem Leben. Beruflich hat sie ihren Platz gefunden, privat sieht es da eher weniger nach aus. Ihre vergangene Liebe zu Felix, ihre aktuelle Liebe zu Karl – sie möchte eine Beziehung, fühlt sich jedoch schnell eingeengt. Sie liebt das Feiern, sie ist aber auch gerne mit sich alleine.
Trotz aller Selbstzweifel, eines ist sie immer: Eine starke Frau, die für ihre Überzeugungen und gegen das Unrecht gegenüber anderen Menschen vorgeht. Leider vergisst sie sich dabei oft selbst und bringt sich damit oft in gefährliche Situationen.
Hulda ist ein sehr authentisch gezeichneter Charakter, den ich so schnell nicht vergessen werde.
Huldas Freund Karl, der im Waisenhaus ohne Liebe und Zuwendung aufgewachsen ist, tut sich schwer damit, für Hulda ein Fels in der Brandung zu sein. Auch er hadert mit sich selbst, fühlt sich schnell zurückgesetzt und redet sich selbst gerne klein.
„Nun, dachte er grantig, während er Hulda ungeduldig zuwinkte, die über die Pfützen am Straßenrand stakste, vielleicht war eigentlich er es, der über sich selbst so hart urteilte. Doch wie hätte er auch lernen sollen, sich selbst zu mögen? Aufgewachsen in einem lieblosen Heim für Waisenkinder, in der täglichen Angst vor Schlägen und dem Wissen, dass seine Eltern ihn ihrer Fürsorge nicht für würdig gehalten hatten. Nein, er hatte als Kind und als junger keinen Grund gehabt, an sich zu glauben, und heute, da er erwachsen war, ein Mann mit einem angesehenen Beruf und einer hübschen Freundin, schien er dies nicht mehr lernen zu können. [S. 161 Z. 13- 24]
Er wirkt oft sehr kalt und emotionslos – kennt man aber seine Vergangenheit wird klar, warum er so ist. Karl hat in seinem Leben nichts geschenkt bekommen, er hat sich alles selbst erarbeitet.
Es gibt eine Vielzahl an Figuren in diesem Buch, die aber alle mit ihren vielen Facetten überzeugen konnten. Unbedingt zu nennen ist der Zeitungsverkäufer Bert: Schon im ersten Teil ein liebenswerter Mensch, nun erfährt man in diesem Teil ein wenig mehr über ihn. Er ist für Hulda ein väterlicher Freund, zu dem sie immer wieder kommen kann. Er sagt ihr Sachen, die sie nicht unbedingt hören möchte, die sie dann aber doch weiter bringen. Er ist immer für Hulda da.
Frau Wunderlich, Huldas Vermieterin, muss man einfach lieb haben, Auch wenn sie Hulda kontrolliert, sie möchte nur das Beste für sie und sorgt sich beständig um Hulda.
Auch Nebenfiguren wie die Apothekerin Jette oder Tamar, haben mich mit ihren fein gezeichneten und liebenswerten Charakteren sehr überzeugt.
Die Figuren in dem Buch „Fräulein Gold – Scheunenkinder“ sind wie ein bunter Blumenstrauß: Vielfältig, farbenprächtig und jede Figur hat ihren Platz. Einige Charaktere mochte ich nicht direkt, nachdem man aber ihre Geschichte erfahren hat, konnte ich vieles an ihrem Verhalten verstehen.
Ab dem ersten Kapitel konnte ich wieder tief in die Geschichte abtauchen. Anne Stern hat eine wunderbare, detaillierte, bildgewaltige und flüssige Sprache, die auf keiner Seite Langeweile aufkommen lässt. Sie beschreibt Menschen, Gerüche und Geräusche so, dass ich völlig in das Berlin der 1920er Jahre abtauchen konnte.
„Eine nächtliche Bahn fuhr über ihrem Kopf durch den dunklen Himmel. Metall kreischte auf Metall, langgezogen und jammernd – der fortwährende Gesang der Großstadt, der niemals verstummte.“ [S.120, Z. 27 – 30]
Die Handlung des Buches konnte mich, wie auch schon im ersten Teil, wieder überzeugen: Hulda, die Unrecht sieht, erkennt und dagegen vor geht. Auch wenn sie sich damit in Gefahr bringt.
Sehr mitgenommen hat mich die Geschichte um die Kinder, die Kinderhändlern in die Hände fallen. Anne Stern beschreibt das Grauen, sie zeigt es aber nicht in jeder Einzelheit.
Sehr beeindruckt hat mich, wie die Autorin das Scheunenviertel, welches im Jahr 1933 zerstört wurde, vor den Augen des Lesers wieder lebendig werden lässt. Enge, dunkle Wohnungen, aber auf den Straßen tobte das bunte Leben.
Ein großes Thema in „Fräulein Gold – Scheunenkinder“ ist die Inflation, die im Jahr 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Die Menschen mussten das Geld säckeweise zum Einkaufen mitnehmen und bekamen trotzdem fast nichts mehr für ihr Geld. Unzufriedenheit und Wut waren die Antwort der Bevölkerung. Diesen Unfrieden nutzten Hetzer, um gegen die „reichen Juden“ zu wettern. Das Scheunenviertel wurde im November 1923 Ziel eines Pogroms: Häuser und jüdische Geschäfte wurden zerstört, Menschen gejagt und verletzt oder getötet. Die Bevölkerung hatte endlich einen Sündenbock gefunden, die Presse spielte das Pogrom gehörig runter.
Es war erschreckend zu lesen, wie leicht es den Hetzern fiel, Gift zu versprühen und auf welch fruchtbaren Boden ihre Saat gefallen und aufgegangen ist.
Spannend fand ich, dass die Autorin viel über den Alltag in jüdischen Familien geschrieben hat. Ich habe viel Neues über Feste und Rituale des Judentums gelernt.
Ein weiteres Thema ist, wie sich die Geburten in dieser Zeit verändert haben: Waren Hausgeburten noch einige Jahre zuvor ganz selbstverständlich, wurde freien Hebammen das Leben immer schwerer gemacht. Geburten in Kliniken und damit unter ärztlicher Aufsicht gewannen immer mehr an Bedeutung.
Fazit: Das Buch „Fräulein Gold – Scheunenkinder“ ist eine lesenswerte Fortsetzung der Reihe um die Hebamme Hulda Gold. Mit einer bildgewaltigen, detaillierten Sprache und einer packenden Handlung bringt uns das Buch zurück in das Berlin von 1923. Unbedingt lesen! Danke an Anne Stern für die unterhaltsamen, aber auch lehrreichen Lesestunden.
Das Buch habe ich freundlicherweise vom Rowohlt-Verlag als Rezensionsexemplar bekommen – es hat meine Meinung aber nicht beeinflusst.