„Die vergessene Heimat“

von Deana Zinßmeister

Erschienen am 21. September 2020 im Goldmann-Verlag
ISBN: 978-3-442-49100-1
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Die-vergessene-Heimat/Deana-Zinssmeister/Goldmann/e568105.rhd

In dem Buch „Die vergessene Heimat“ von Deana Zinßmeister erzählt die Autorin eine dramatische Flucht aus Ostberlin im August 1961 und damit die Geschichte ihrer eigenen Familie.

Der Prolog setzt am 12./13. August 1961 in Ostberlin an: Hier lernen wir das junge Pärchen Ernst und Leni kennen. Sie haben viele Träume und Wünsche, die von jetzt auf gleich in Scherben vor ihnen liegen: Direkt vor ihrer Haustür wird mit dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ begonnen. Damit endet nicht nur für sie die Zeit, in der sie völlig unbedarft nach Westberlin durften, sie werden buchstäblich eingesperrt. Schnell wird für die Beiden klar, dass sie fliehen werden.
Der zweite Erzählstrang beginnt im Januar 2014: Britta Hofmeister, eine erfolgreiche Kochbuch-Autorin lebt mit ihrer Familie im Saarland. Ihre Geschwister wohnen nicht weit entfernt, ihre Eltern verbringen viele Monate im Jahr auf Mallorca. Doch dieses geregelte und friedliche Leben bekommt Risse, als ihr Vater Ernst schwer erkrankt. Er erinnert sich an vieles nicht mehr, wird zunehmend aggressiv und erkennt schon sehr bald seine Familie nicht mehr. Die Diagnose Demenz steht im Raum. Doch die Erinnerungen an eine dramatische Flucht im Jahr 1961 werden in Ernst wieder lebendig.

Durch das Buch bin ich über die Sozialen Medien aufmerksam geworden. Da ich die Historischen Romane von Deana Zinßmeister sehr schätze und gerne lese, ist sie auf Facebook auch in meiner Freundesliste zu finden. Als das Cover und der Klappentext veröffentlicht wurden, war mein Interesse direkt geweckt. Ich lese gerne Bücher über Fluchten aus dem Osten und empfinde diese Thematik als sehr spannend – auch wenn es unvorstellbar ist, was diese Menschen damals auf sich genommen und riskiert haben.
Die Autorin vermittelte mir beim Verlag ein Rezensionsexemplar – an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Deana Zinßmeister und den Goldmann-Verlag.

Die Figuren in diesem Buch haben alle reale Personen als Vorbild. Dadurch ist das Buch, sowie die Figuren und die Handlung sehr authentisch und intensiv.
Ich habe alle Figuren sehr ins Herz geschlossen, konnte mich gut in sie hineinversetzen und litt mit ihnen mit.
Im Erzählstrang, der im Jahr 1961 spielt, lernen wir den jungen Ernst kennen. Ein wahrer Kämpfer – was sein Name auch bedeutet. Er möchte sich nicht in der DDR einsperren lassen, er möchte frei sein und vor allem frei denken. Akribisch plant er die Flucht seiner Familie in den Westen. Die Ängste und Bedenken seiner Partnerin Leni kann Ernst gut zerstreuen, auch wenn diese einen Teil ihrer Familie im Osten zurück lassen muss. Er ist ein Macher, der sich von den Machenschaften der DDR nicht unterkriegen lässt.
Leni hat mit Ernst den Mann fürs Leben gefunden. Für sie ist klar, dass sie mit ihm flüchten wird und nicht zu ihrer Familie nach Thüringen zurückkehren wird.
Auch die anderen Figuren in diesem Erzählstrang sind lebendig und stark gezeichnet. Immer wieder kommen sie ins Grübeln, ob ihre Entscheidung zur Flucht wirklich so gut ist. Sie müssen vieles zurücklassen: Ihre Wohnungen, sicherer Arbeitsplätze, Freunde und Familie. Sie flüchten in eine ungewisse Zukunft, wissen nicht, ob sie im Westen Arbeit und Wohnungen finden. Aber sie wissen, was sie „drüben“ finden werden: Freiheit und vor allem Lebensfreude.

Doch nach dem 13. August schien sich ein grauer Schleier über ihr Leben gelegt zu haben. Alles erschien schwer und mühsam. Manchmal, wenn sie beim Frisieren ihrer Kunden sich selbst im Spiegel sah, war sie erschrocken über ihre versteinerte Miene. Doch wenn sie die Gesichter der anderen betrachtete, erkannte sie, dass es vielen im Osten nicht anders erging. Die Lebensfreude wurde vom Stacheldraht ausgegrenzt.“ [S. 280 Z. 25- 29 und S. 281 Z. 1-4]

Im zweiten Erzählstrang, der im Januar 2014 ansetzt, lernen wir die drei Kinder von Ernst und Leni kennen. Diese haben ihren Platz im Leben gefunden, sich eingerichtet und sind mit sich und ihren Leben glücklich. Doch dieses Familienglück wird durch die Erkrankung des Vaters Ernst auf eine harte Probe gestellt. Die drei Geschwister haben völlig andere Ansichten darüber, wie man den Eltern am besten hilft und welche Hilfe sie überhaupt benötigen. Auch hier bestechen die Figuren mit Authentizität und starker Charakterzeichnung.
Als Leser bekommt man den geistigen Verfall von Ernst hautnah mit, aber auch die Not der Angehörigen, die sich in dieser Situation erst einmal zurecht finden müssen. Es muss alles neu organisiert werden. Tagesabläufe, aber auch die Kommunikation unter den Geschwistern.

Die Sprache von Deana Zinßmeister nahm mich von der ersten Seite an mit in die beiden Geschichten. Beide Erzählstränge sind sehr authentisch und emotional, teilweise mochte ich das Buch nicht mehr aus den Händen legen und hatte beim Lesen die Tränen in den Augen.

Das große Thema ist eine Flucht aus der DDR, eine Flucht von vielen, die aber genau so stattgefunden hat. Die Verzweiflung der Menschen, die alles zurücklassen und den Mut aufbringen, wieder ganz von vorne zu beginnen, haben mich sehr beeindruckt. Sie brachten mit der Flucht nicht nur sich in Gefahr, sondern auch Freunde und Verwandte, die zurückblieben. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob ich auch aus einem Staat geflüchtet wäre, in dem man nicht frei reden konnte, weil man Angst haben musste, dass am Nachbartisch jemand mithört. Oder man sich selbst in der eigenen Wohnung nicht mehr sicher fühlen konnte, weil ein zu aufmerksamer Nachbar „große Ohren“ hatte. Hätte ich meine Kinder der Gefahr einer Flucht ausgesetzt? Fragen, die sich heutzutage noch immer viele Menschen stellen müssen. Das Thema Flucht ist nach wie vor hochaktuell.
Die andere große Thematik ist die Demenz-Erkrankung. Eine Krankheit, die eine ganze Familie auf den Kopf und vor große Probleme und Herausforderungen stellt. Ich habe mich persönlich noch nicht mit diesem Thema beschäftigt, da es mir auch etwas Angst macht. Was passiert, wenn ein Mensch seine Geschichte verliert? Deana Zinßmeister schildert den Verlauf dieser Krankheit sehr eindrücklich und auch sehr persönlich. Ich litt sehr mit der Familie aber auch mit Ernst mit. Das Buch berichtet schonungslos, wie das Familienleben fast an dieser Diagnose zerbricht.

Fazit: Ein sehr persönliches und ergreifendes Buch der Autorin. Eine Familie, die zusammen hält und sich nicht unterkriegen lässt – in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Denn auch wenn ein Mensch seine Vergangenheit vergisst, in Vergessenheit darf sie nie geraten.

Hinweis: Dieses Buch habe ich vom Goldmann-Verlag als kostenloses Rezensionsexemplar bekommen – es hat meine Meinung aber nicht beeinflusst.

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